Geschöpf

Katharina von Woikowsky-Tillgner, um 1930

Die Nacht sinkt bleich, ein Schattenland
Eröffnet sie der Sehnsucht Tor.
Das Auge neigt, die Menschenhand
Streckt weit ins Dunkel sich hervor.

Der Mond geht auf, mein Ruf scholl tief,
Verwandelt steigt ein weites Reich,
Das Reich der Stimme, die es rief.
— Aus Schleiern strömt d e i n Angesicht.

Ich träume dich, ich rufe dich
Die Arme durch den Raum gespannt,
Ich kenne dich, ich nenne dich,
O Name, weit vom Tag verbannt…

Der Mond erglänzt, — –in Silberblau
Schäumt übervolles Reich des Lichts,
Geheimnis, deiner Seele Tau
Entatm’ ich selig schon dem Nichts.

Die Welt wird mein, die Welt wird neu,
Umsäumend meine Dichgestalt,
Die Sehnsucht schwillt zum Schöpferschrei —
Da bist du, Antlitz, — — halt!

Der Mond vergeht, die Nacht verspült,
Der Tag droht dürr am Weltenrand;
Ich aber tue dir Gewalt,
Ich habe dich, o Traumgesicht, zu tief lebendig wachgefühlt.

Ich liebe dich, berühre dich,
Mein Zittern beugt das Ohr dir hin;
Ich habe dich aus Nichts und Nacht
Geschöpft — — und deines Angesichts
Lippe unsterblich aufgemacht. —

Schon rührt dein Fuß die Schwelle: S e i n —
Nun folg’ mir in den Tag hinein
Und sprich das Wort: ICH BIN.

von Woikowsky-Tillgner, Katharina, (ca. 1930), Gedichte, Friedr. von Wolff Verlag, Wismar.
Anmerkung der Autorin im Buch: Dieses Buch wurde gedruckt in 100 nummerierten und 50 handschriftlich signierten Exemplaren von der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig